Donnerstag, 16. April 2015

Von der Schrankenlosigkeit der Phantastik oder wie sie immer realistischer wird



E.T.A. Hoffmanns phantastische Erzählung „Der Sandmann“ bewegt sich nicht nur gattungsspezifisch zwischen zwei Ebenen, zwischen Märchen und realistischem Roman, sondern lässt auch in logischer Hinsicht zwei scheinbar unvereinbare Ordnungen nebeneinander existieren, welche zu einem spannungsgeladenen Gesamtwerk führen. Das erste Stück seines Erzählzyklus Nachtstücke, welches 1816 erstmals veröffentlicht wurde, kann als Antwort auf eine beschränkt rationalistische Weltsicht gesehen werden, welches das Zeitalter der Aufklärung prägte.
 
Die Verdunkelung der Realität kommt bereits in der Bezeichnung als „Nachtstück“ zum Ausdruck. Die terminologische Herkunft des Begriffes lässt sich auf die Malerei zurückführen, in welcher erstmals die Facetten des Lichts bedeutsam wurden. Das Halbdunkel („Chiaroscuro“) kann metaphorisch als Gradwanderung zwischen Erkenntnis und Geheimnis gelten, das trotz der Anwesenheit des Lichts, Dunkelstellen offen lässt. Doch Dunkelheit evoziert immer auch das Gefühl von Kontrollverlust, durch welches Bedrohungen heraufbeschworen werden, die die bereits eingeschränkte Sicht noch stärker verschleiern. Auch die phantastischen Erzählungen wurden als eine solche Bedrohung empfunden, da sie durch ihre Unklarheiten, scheinbar die Reinheit der Kunst in Gefahr brachten. Somit wurde die Phantastik zum Problem einer Welt, „die sich der rationalen Erklärbarkeit allen Geschehens verschrieben hatte.” (Thomsen 1980: 39).

Phantastik wird oftmals in Abgrenzung zum Realitätsbegriff definiert, doch wie dieser beschaffen ist, ist unbestreitbar von der Zeit und dem kulturellen Kontext ihrer Entstehung abhängig. Waren es in der Vergangenheit historische und soziale Umstände oder philosophische Überzeugungen, wie der Positivismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die den Anreiz für eine abweichende, phantastische Literaturproduktion gaben, ist die Phantastik der heutigen Zeit weitaus schwieriger zu begründen. Schon im 20. Jahrhundert war „[n]ach Todorov […] das Begriffspaar Realismus – Phantastik nicht mehr gültig: Kafka braucht nicht mehr übernatürliche Wesen erscheinen lassen, da der Mensch an sich schon phantastisch genug ist.“ (Thomsen 1980: 40).

Im Laufe der Geschichte werden die Vertauschung von Künstlichem und Lebendigem und die literarische Verbindung von Schein und Sein immer ernsthafter und greifbarer. Der Schrecken der heutigen Zeit besteht wohl zunehmend darin, dass dieser einst bestehende Zwiespalt zwischen realer und fiktiver Ordnung aufgehoben wird. Die Gesellschaft des Technologie-Zeitalters, die sich zu einem Großteil durch ihre Internnetpräsenz definiert, sich in virtuellen Welten bewegt, ständigem Informationsfluss ausgesetzt ist und nach Selbstoptimierung strebt, erweckt den Anschein,  als sei heutzutage die Irrationalität realistischer denn je.
Inwieweit das Unheimliche auch heute noch im Mittelpunkt literarischen Interesses steht, werde ich in Kürze anhand des gleichnamigen Romans von Bodo Kirchhoff aus dem Jahre 1994 zu zeigen versuchen.
Literatur: Thomsen, Christian Werner; Fischer, Jens Malte (1980): Phantastik in Literatur und Kunst. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft [Abt. Verl.].
Bild: http://fudder.de/artikel/2013/07/04/verlosung-max-ernst-in-der-fondation-beyeler (Der Hausengel (Erste Fassung); Max Ernst, 1937).

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