Der Reiz des Phantastischen
Bis heute hat das Phänomen der Abnormität in keiner Weise an Reiz verloren; spannende, nervenaufreibende Literatur, wie Krimis und Thriller, legen vor allem auch in Deutschland an Umsatz zu. Die Einbettung der Phantastik und des Schreckens in einen alltäglichen Kontext, welcher dem Leser oder Zuschauer einen reizvollen Nervenkitzel bereitet, ist noch heute ein funktionierendes Prinzip der Spannungserzeugung.
Während heutzutage der Fokus meist auf einer speziellen narrativen Struktur liegt, ist bei Hoffmann auch ein klares ästhetisches Programm zu erkennen, das eindeutig auf ein ausgewähltes Themen- und Motivrepertoire zurückgreift.
Durch die Einbindung von Phantasmen in eine realistisch
geglaubte Welt, wird innerhalb der Erzählung eine Überschreitung der
Geschlossenheit vorgenommen, die eine mehrschichtige Realität heraufbeschwört. Figuren
und Handlungen zeugen hierbei meist von einer Tiefenstaffelung, die charakteristisch
für die literarische Phantastik ist und die die Anwesenheit scheinbar
unvereinbarer Bewusstseinsebenen regelrecht fordert.
Das phantastische Erzählen siedelt sich im
undefinierbaren Grenzbereich zwischen Märchen und Novelle an, was die
Ungreifbarkeit über das Inhaltliche hinaus, auch auf seine formale Struktur
überträgt. Der Leser wird zunehmend in einen kausalen Schwebezustand versetzt,
der die Grenzen zwischen Faktum und Fiktion aufzuheben vermag (vgl. Todorov
1972: 23). Die Unschlüssigkeit, wie die geschilderten Ereignisse letztendlich
gewertet werden sollen, ob sie in natürlichen oder übernatürlichen Erklärungen
ihre Einlösung finden, führt zu der notwendigen Ambivalenz der Sichtweise, mit
welcher E.T.A. Hoffmann auch durch die gewählte Motivik anzuspielen vermag.
Neben dieser Bedingung der Unschlüssigkeit werden laut
Todorovs „Einführung in die fantastische Literatur“ zwei weitere Aspekte
entscheidend (vgl. Todorov 1972: 33). Zunächst wird der „verbale Aspekt“
behandelt, durch welchen der Leser an den fiktionalen Text die Erwartung
herantragen sollte, es handle sich um eine real dargestellte Welt. Erst dadurch
ist der Leser ausreichend in die erzählte Handlung involviert, um eventuelle
Auffälligkeiten und Normabweichungen ergründen zu wollen. In einem weiteren Schritt
kann es hierbei zu Gefühlsüberschneidungen kommen, indem die handelnde Figur
der Geschichte dieselbe Unschlüssigkeit empfindet, wie der Leser. Die Rolle des
Lesers wird einer Person der Erzählung anvertraut, sodass es zur
Leseridentifikation kommt. Dieser Aspekt umfasst Syntax und Semantik der
Geschichte, wobei der letzte Schritt der Identifikation nicht zwingend, aber
häufig ist.
Der dritte Punkt ist von allgemeinerem Charakter, sieht
die Wahl verschiedener Modi und Ebenen der Lektüre vor, bezieht sich aber
ebenfalls auf die Haltung des Lesers. Sie sollte weder poetische, noch
allegorische Interpretationen als angebracht erachten (vgl. Todorov 1972: 33). Meist
geht eine solche Unschlüssigkeit mit dem Gefühl der Angst einher, das nach H.P.
Lovecraft in gleicher Weise eine notwendige Leseerfahrung bildet.
Bei E.T.A. Hoffmanns Erzählungen ist ein solches
Denkmodell, das auf den genannten Aspekten beruht, ebenso zu finden. Dabei kann
das Grundmotiv der ständig wechselnden Perspektive herausgearbeitet werden, das
als Basis des Nachtstücks „Der Sandmann“ dient und das die erwünschte
Unsicherheit schafft.
Subjektive Wahrnehmungsverfälschung - "I'm afraid that if you look at a thing long enough, it loses all of it's meaning." (Andy Warhol)
In E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ kommt die Normalität
des alltäglichen Lebens eben durch die Verschmelzung unterschiedlicher
Bewusstseinsebenen auf überraschende Weise ins Wanken. Die Geschichte erzählt
davon, wie die Realität eines Individuums durch das Eindringen einer
fremdartigen, scheinbar unerklärlichen Sphäre, schrittweise zerstört wird.
Während dafür zunächst die Wirkung höherer Mächte verantwortlich gemacht wird, wächst
die Erkenntnis, dass der Protagonist nicht als ohnmächtiges Opfer gelten kann,
sondern dass die dunkle Seite der menschlichen Existenz geradezu aus seiner
eigenen Seele erwächst. Hoffmann verstößt somit gegen das (früh-)romantische
Idealbild, indem seine Darstellungen von den Nachtseiten des Lebens erzählen,
die dabei jedoch immer im Realen verankert zu sein scheinen.
Außerdem richtet er sich gegen die aufklärerische
Geisteshaltung, die Gesamtheit der menschlichen Existenz rational erfassen zu
können. Hoffmann arbeitet wissentlich mit der Metapher des verfälschten
Blicks. Das zentrale Motiv der Augen und der optischen Geräte, das für die
präzisierende Klarheit der Aufklärung steht, wird zum Ursprung subjektiver
Verfälschung und Fehllenkung pervertiert. Gleichsam steht diese Metapher für
die Verbindung von Innen- und Außenschau: „Mit diesen Hilfsmitteln erschaut
der Protagonist die Tiefen seines Innern im Äußern, womit der Veitstanz seiner
Existenz beginnt.“ (Rath 2008: 203). Die Verbindung beider Wahrnehmungsebenen
mündet letztendlich in der Erkenntnis der Selbstprojektion, indem die innere
Leere stofflich wird. Der Protagonist sieht nur das, wozu er fähig ist und
was er auch sehen will. Die Wahrnehmung, die vorrangig mit der Sehkraft
gleichgesetzt wird, wird zum Ausdruck der persönlichen Überzeugung, der
geistigen Verfassung und allgemein des Verstands. Was der Mensch nicht
begreift, kann er auch nicht mit den Augen erfassen. Das Auge als Spiegel der
Seele wird in der Erzählung zum zentralen Motiv.
Durch den Protagonisten Nathanael und die Schilderung
seines Schicksals wird dieses Phänomen auf ungeheure Weise gesteigert. Nathanael
beginnt, im Laufe seines Lebens eine subjektive Realität zu kreieren. Auch
sieht er seine Forderungen an die Weiblichkeit und Liebe in der Wirklichkeit
nicht realisiert, sodass er schlussendlich den leblosen Automaten „Olympia“ zum
Inbegriff einer wahrhaftigen Liebe verklärt. Die Initialzündung für Nathanaels verklärten Blick
liefert hierbei ein Kindheitserlebnis bzw. die Geschichte des „Sandmanns“, die
Nathanael von seinem Kindermädchen erzählt bekommt.
Das gesamte Werk Hoffmanns ist nahezu durchdrungen von
Gegensätzen, von welchen auch die Figurengestaltung betroffen ist. Nathanaels
„fleischliche“ Geliebte Clara personifiziert die vernunftgeprägte Aufklärung,
womit sie dem narzisstischen Träumer kontrastär gegenübergestellt wird. Ihre
gescheiterte Liebesbeziehung kann metaphorisch als eine unmögliche Synthese
beider Weltanschauungen angesehen werden, die wiederum auf eine Wahrnehmungsproblematik
zurückgeführt werden kann: „Die Dialektik von realer Alltags- und irrealer
Traumwelt ist nicht lösbar.“ (Hillebrand 1999: 30). Die Multiplikation von
Wirklichkeitsebenen und Figuren führt zu einer Verwirrung des Lesers und seiner
Perspektive, sodass eine logische Zusammenführung erschwert wird. Die Synthese
wird bewusst verhindert, um den Facettenreichtum der Welt in die erzählerische
Darstellung einfließen zu lassen.
Ob es nun der Blick in die Vergangenheit, oder der in
die Zukunft war, der in den Menschen des damaligen Deutschlands mehr Angst
auslöste, oder ob es die Verbindung beider Blickrichtungen war, deren
scheinbare Unvereinbarkeit in ihrem Zwiespalt die vage Phantastik
hervorbrachte, weiß man nicht. Vielleicht waren die Ziele der Aufklärung, die
neu gewonnenen Erkenntnisse, die ein „helleres“ Weltbild schafften, noch nicht
gefestigt genug, um mögliche Normabweichungen akzeptieren zu können. Denn auch heute noch sind solche kuriosen Erzählungen Anreiz, allgemeines Interesse zu wecken, auch wenn sich dieses Interesse weniger in Kritik, als in neugieriger Sensationslust äußert.
(Hillebrand, Sabine: Strategien der Verwirrung. Zur
Erzählkunst von E.T.A. Hoffmann, Thomas Bernhard und Giorgio Manganelli.
Frankfurt am Main 1999; Rath, Wolfgang: Die Novelle. 2., überarbeitete und aktualisierte
Aufl.. Göttingen 2008; Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische
Literatur. München 1972.)
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