Dienstag, 7. April 2015

Die Darstellung der inneren Zerrissenheit mit Hilfe der phantastischen Erzählweise und dem Motiv der Optik



  Der Reiz des Phantastischen 

Bis heute hat das Phänomen der Abnormität in keiner Weise an Reiz verloren; spannende, nervenaufreibende Literatur, wie Krimis und Thriller, legen vor allem auch in Deutschland an Umsatz zu. Die Einbettung der Phantastik und des Schreckens in einen alltäglichen Kontext, welcher dem Leser oder Zuschauer einen reizvollen Nervenkitzel bereitet, ist noch heute ein funktionierendes Prinzip der Spannungserzeugung. 

Während heutzutage der Fokus meist auf einer speziellen narrativen Struktur liegt, ist bei Hoffmann auch ein klares ästhetisches Programm zu erkennen, das eindeutig auf ein ausgewähltes Themen- und Motivrepertoire zurückgreift.

Durch die Einbindung von Phantasmen in eine realistisch geglaubte Welt, wird innerhalb der Erzählung eine Überschreitung der Geschlossenheit vorgenommen, die eine mehrschichtige Realität heraufbeschwört. Figuren und Handlungen zeugen hierbei meist von einer Tiefenstaffelung, die charakteristisch für die literarische Phantastik ist und die die Anwesenheit scheinbar unvereinbarer Bewusstseinsebenen regelrecht fordert.  
Das phantastische Erzählen siedelt sich im undefinierbaren Grenzbereich zwischen Märchen und Novelle an, was die Ungreifbarkeit über das Inhaltliche hinaus, auch auf seine formale Struktur überträgt. Der Leser wird zunehmend in einen kausalen Schwebezustand versetzt, der die Grenzen zwischen Faktum und Fiktion aufzuheben vermag (vgl. Todorov 1972: 23). Die Unschlüssigkeit, wie die geschilderten Ereignisse letztendlich gewertet werden sollen, ob sie in natürlichen oder übernatürlichen Erklärungen ihre Einlösung finden, führt zu der notwendigen Ambivalenz der Sichtweise, mit welcher E.T.A. Hoffmann auch durch die gewählte Motivik anzuspielen vermag.
Neben dieser Bedingung der Unschlüssigkeit werden laut Todorovs „Einführung in die fantastische Literatur“ zwei weitere Aspekte entscheidend (vgl. Todorov 1972: 33). Zunächst wird der „verbale Aspekt“ behandelt, durch welchen der Leser an den fiktionalen Text die Erwartung herantragen sollte, es handle sich um eine real dargestellte Welt. Erst dadurch ist der Leser ausreichend in die erzählte Handlung involviert, um eventuelle Auffälligkeiten und Normabweichungen ergründen zu wollen. In einem weiteren Schritt kann es hierbei zu Gefühlsüberschneidungen kommen, indem die handelnde Figur der Geschichte dieselbe Unschlüssigkeit empfindet, wie der Leser. Die Rolle des Lesers wird einer Person der Erzählung anvertraut, sodass es zur Leseridentifikation kommt. Dieser Aspekt umfasst Syntax und Semantik der Geschichte, wobei der letzte Schritt der Identifikation nicht zwingend, aber häufig ist.
Der dritte Punkt ist von allgemeinerem Charakter, sieht die Wahl verschiedener Modi und Ebenen der Lektüre vor, bezieht sich aber ebenfalls auf die Haltung des Lesers. Sie sollte weder poetische, noch allegorische Interpretationen als angebracht erachten (vgl. Todorov 1972: 33). Meist geht eine solche Unschlüssigkeit mit dem Gefühl der Angst einher, das nach H.P. Lovecraft in gleicher Weise eine notwendige Leseerfahrung bildet.
Bei E.T.A. Hoffmanns Erzählungen ist ein solches Denkmodell, das auf den genannten Aspekten beruht, ebenso zu finden. Dabei kann das Grundmotiv der ständig wechselnden Perspektive herausgearbeitet werden, das als Basis des Nachtstücks „Der Sandmann“ dient und das die erwünschte Unsicherheit schafft. 



Subjektive Wahrnehmungsverfälschung - "I'm afraid that if you look at a thing long enough, it loses all of it's meaning." (Andy Warhol)

In E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ kommt die Normalität des alltäglichen Lebens eben durch die Verschmelzung unterschiedlicher Bewusstseinsebenen auf überraschende Weise ins Wanken. Die Geschichte erzählt davon, wie die Realität eines Individuums durch das Eindringen einer fremdartigen, scheinbar unerklärlichen Sphäre, schrittweise zerstört wird. Während dafür zunächst die Wirkung höherer Mächte verantwortlich gemacht wird, wächst die Erkenntnis, dass der Protagonist nicht als ohnmächtiges Opfer gelten kann, sondern dass die dunkle Seite der menschlichen Existenz geradezu aus seiner eigenen Seele erwächst. Hoffmann verstößt somit gegen das (früh-)romantische Idealbild, indem seine Darstellungen von den Nachtseiten des Lebens erzählen, die dabei jedoch immer im Realen verankert zu sein scheinen.
Außerdem richtet er sich gegen die aufklärerische Geisteshaltung, die Gesamtheit der menschlichen Existenz rational erfassen zu können. Hoffmann arbeitet wissentlich mit der Metapher des verfälschten Blicks. Das zentrale Motiv der Augen und der optischen Geräte, das für die präzisierende Klarheit der Aufklärung steht, wird zum Ursprung subjektiver Verfälschung und Fehllenkung pervertiert. Gleichsam steht diese Metapher für die Verbindung von Innen- und Außenschau: „Mit diesen Hilfsmitteln erschaut der Protagonist die Tiefen seines Innern im Äußern, womit der Veitstanz seiner Existenz beginnt.“ (Rath 2008: 203). Die Verbindung beider Wahrnehmungsebenen mündet letztendlich in der Erkenntnis der Selbstprojektion, indem die innere Leere stofflich wird. Der Protagonist sieht nur das, wozu er fähig ist und was er auch sehen will. Die Wahrnehmung, die vorrangig mit der Sehkraft gleichgesetzt wird, wird zum Ausdruck der persönlichen Überzeugung, der geistigen Verfassung und allgemein des Verstands. Was der Mensch nicht begreift, kann er auch nicht mit den Augen erfassen. Das Auge als Spiegel der Seele wird in der Erzählung zum zentralen Motiv.
Durch den Protagonisten Nathanael und die Schilderung seines Schicksals wird dieses Phänomen auf ungeheure Weise gesteigert. Nathanael beginnt, im Laufe seines Lebens eine subjektive Realität zu kreieren. Auch sieht er seine Forderungen an die Weiblichkeit und Liebe in der Wirklichkeit nicht realisiert, sodass er schlussendlich den leblosen Automaten „Olympia“ zum Inbegriff einer wahrhaftigen Liebe verklärt. Die Initialzündung für Nathanaels verklärten Blick liefert hierbei ein Kindheitserlebnis bzw. die Geschichte des „Sandmanns“, die Nathanael von seinem Kindermädchen erzählt bekommt.
Das gesamte Werk Hoffmanns ist nahezu durchdrungen von Gegensätzen, von welchen auch die Figurengestaltung betroffen ist. Nathanaels „fleischliche“ Geliebte Clara personifiziert die vernunftgeprägte Aufklärung, womit sie dem narzisstischen Träumer kontrastär gegenübergestellt wird. Ihre gescheiterte Liebesbeziehung kann metaphorisch als eine unmögliche Synthese beider Weltanschauungen angesehen werden, die wiederum auf eine Wahrnehmungsproblematik zurückgeführt werden kann: „Die Dialektik von realer Alltags- und irrealer Traumwelt ist nicht lösbar.“ (Hillebrand 1999: 30). Die Multiplikation von Wirklichkeitsebenen und Figuren führt zu einer Verwirrung des Lesers und seiner Perspektive, sodass eine logische Zusammenführung erschwert wird. Die Synthese wird bewusst verhindert, um den Facettenreichtum der Welt in die erzählerische Darstellung einfließen zu lassen.
Ob es nun der Blick in die Vergangenheit, oder der in die Zukunft war, der in den Menschen des damaligen Deutschlands mehr Angst auslöste, oder ob es die Verbindung beider Blickrichtungen war, deren scheinbare Unvereinbarkeit in ihrem Zwiespalt die vage Phantastik hervorbrachte, weiß man nicht. Vielleicht waren die Ziele der Aufklärung, die neu gewonnenen Erkenntnisse, die ein „helleres“ Weltbild schafften, noch nicht gefestigt genug, um mögliche Normabweichungen akzeptieren zu können. Denn auch heute noch sind solche kuriosen Erzählungen Anreiz, allgemeines Interesse zu wecken, auch wenn sich dieses Interesse weniger in Kritik, als in neugieriger Sensationslust äußert.

(Hillebrand, Sabine: Strategien der Verwirrung. Zur Erzählkunst von E.T.A. Hoffmann, Thomas Bernhard und Giorgio Manganelli. Frankfurt am Main 1999; Rath, Wolfgang: Die Novelle. 2., überarbeitete und aktualisierte Aufl.. Göttingen 2008; Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. München 1972.)

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